Nichts
- was es nicht schon einmal gegeben hätte.



Alles war schon einmal. Der rote Mohn am Feldrand. Die Sonne über dem Wäldchen. Der Staub auf meinen Schuhen. Der Kratzer im Blech. Das Brötchen mit der leeren Höhle innendrin. Die Wiederholung im TV, Film oder Werbung. Der tropfende Wasserhahn im Bad. Der Rummelplatz neben der Sportanlage. Das Muster des Schaums im Spülbecken. Der mittlere Gedanke, der letzte Satz, das erste Wort, der Text, der geschrieben wurde, und jener, der es noch werden muss.

   "Die Tür fiel ins Schloss."

In wie vielen Erzählungen, Romanen findet sich dieser Satz? Tausendmal gelesen, tausendmal gehört. Es gibt nichts, das nicht schon einmal geschrieben, gesagt worden wäre.

   "Ich kehrte am späten Abend zurück."

Auch das wurde tausendmal geschrieben, gesagt, gehört, gelesen, in einer Erzählung, einem Roman, einer Erklärung, einer schlimmen Lüge.

Es gibt keine Worte, die nicht jemand anderes schon benutzt hat, keine Satzstellung, die es neu zu erfinden gibt. Alles, das man sagt oder schreibt, ist bereits gesagt oder geschrieben worden. Meine neuesten Neuigkeiten kennt man schon, sie waren schon alt, bevor sie überhaupt passierten.

Wie kann ich etwas bedeutsames sagen oder schreiben, wenn diese Worte, mit denen ich zu sprechen oder zu beschreiben fähig bin, alt und langweilig sind, weil sie bereits unzählige Male verwendet wurden, genau so oder nur minimal anders? Jeder Gedanke, den ich denke, dachte bereits ein anderer. Jede Emotion in mir teile ich mit anderen, die dasselbe fühlen. Nichts ist neu, unentdeckt, einzigartig. Keine Krankheit, die nicht bereits jemand vor mir durchlitten hätte, kein Schicksalsschlag, an dem nicht bereits jemand anderes zerbrochen wäre, oder den jemand anderes gemeistert hat.

   "Ich kehrte am späten Abend zurück. Die Tür fiel ins Schloss."

Hunderte kehrten am späten Abend zurück und hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss. Jeden Abend. Tag für Tag. Ein Leben lang.

"Ich kehrte am späten Abend zurück. Die Tür fiel ins Schloss. Sofort erdrückte Dunkelheit den langen Flur vor mir. Ich wusste, ohne erst nachsehen zu müssen, dass ich allein im Haus war. Angst umklammerte meine Fesseln und lähmte meine Schritte. Wenn sie noch schlimmer werden würde, so schlimm, dass ich nicht mehr zu atmen fähig bin, wusste ich, wäre niemand da, um mir zu helfen. Ich würde ersticken. Sterben. In diesem Flur. Auf diesem Teppich, der so schmuddelig ist, dass nicht einmal strahlendstes Sonnenlicht seine Farben deuten kann.

Ich wäre dann tot. Gestorben. Nicht mehr da. Man würde mich von einem Begräbnisinstitut abholen lassen. Ich würde gewaschen und umgezogen werden - niemand wird in Jeans und Shirt mit Marmeladenfleck begraben, das sieht nicht schön aus. Man würde mich auf dem winzigen Friedhof in die Erde lassen. Nicht unter der alten Weide, da liegen die Kinder unter ihren winzigen Erdhügelchen, und darauf drehen sich bunte Windräder bis sie vor Rost zu quietschen anfangen und irgendwann aufhören, sich zu drehen. Das ist dann, wenn die Eltern nicht mehr weinen, nur noch ab und zu, an besonderen Tagen, am Geburtstag oder Todestag, oder wenn die Sonne so schön scheint, dass die Nachbarskinder im Plantschbecken kreischen. Nein, nicht unter der alten Weide, sondern ganz hinten, wo sich Raps durch den Zaun drängt und Brennesseln wuchern.

Man würde weinen. Eine Zeit. Und dann würde man aufhören zu weinen. Nur noch ganz selten würde jemand weinen, an Geburtstagen, oder wenn die Sonne so schön scheint, dass die Picknickdecke von ganz alleine in den Park wandert. Irgendwann würde man gar nicht mehr weinen. Das muss so sein, weil das Weinen sehr hinderlich ist und man am Telefon nicht richtig sprechen kann und nicht richtig gucken, beim Autofahren. Der farblose Teppich würde eines Tages verschwunden sein, im Sperrmüll, und ein anderer dort liegen, wo ich gestorben bin. Nicht einmal ein winziges Stück von ihm würde einen Ehrenplatz bekommen, vielleicht neben dem Fernseher, um an mich und die Stelle, an der ich gestorben bin, zu erinnern.

Ich wäre einfach fort. So wie der alte Nachbar ein paar Häuser weiter. Oder so wie das Baby, das vor zwei Jahren vierzehn Tage nach seiner Geburt plötzlich fort war, weil es gestorben ist.

Ich wäre fort und es wäre nichts, das nicht schon einmal genauso dagewesen wäre. Unzählige Menschen starben hinter der Haustür im dunklen Flur und unzählige andere weinten darüber. Eine Zeit. Und dann nicht mehr.

Warum habe ich also solche Angst? Es passiert nichts, das nicht schon einmal passiert wäre. Nichts ist einzigartig, besonders daran, auf einem Dielenteppich zu sterben. Dieses hier ist eine Geschichte, wie tausend andere. Nichts daran macht irgendjemanden auch nur einen Hauch Angst."


Nichts. was es nicht schon einmal gegeben hätte.




monolog am 07.Aug 10  |  Permalink
Einspruch. Für den Lauf der Welt mag es so sein. Aber nicht für die, die uns nahe sind. "Einzigartig" sollte nur in seiner kleinen Bedeutung verwendet werden dürfen, für den Einzelnen - damit vieles, was für die Welt unbedeutend ist, eben doch die Bedeutung bekommt, die ihm zusteht. Vollkommen subjektiv. Und vollkommen egal, ob es das schon eine Million mal gegeben hat.

heim_weh am 22.Aug 10  |  Permalink
Ich glaube, es ist stark tagesformabhängig, aus welchem Blickwinkel man das - auf sich selbst bezogen - zu betrachten vermag.