Montag, 12. Oktober 2015
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Nach 23 Jahren das erste Mal wieder die Stimme der eigenen Schwester zu hören ist sehr seltsam. Nicht, dass es mich unvorbereitet getroffen hätte, immerhin habe ich den ersten Schritt gemacht. Die Stimme war dann auch nicht das Problem, sondern zu erfahren, dass ich seinerzeit, als die leibliche Familie an meinen Vorwürfen zerbrach, doppelt im Stich gelassen worden bin. Das tut sogar heute noch weh, nachdem ich eigentlich mit allem abgeschlossen habe.

Ein Wort von ihr, damals, als ich alleine dastand, nur eines, und vielleicht wäre alles anders gekommen. Für alle. Aber sie wollte "die Mutter schützen" vor dem, was geschehen ist und bezichtigte mich, wie alle anderen auch, der Lüge. Heute kann sie es aussprechen, das unaussprechliche, nur heute hilft es keinem mehr.

Familie ist das, an dem du lebenslang zu kauen hast.



Donnerstag, 3. September 2015
Vorsicht!!! Arbeit!
Nachdem uns einer unserer guten Mitarbeiter aufgrund persönlicher Gründe verlassen hat, haben wir die nun offene Stelle beim Arbeitsamt gemeldet. Diesen Schritt sind wir bereits schon einmal vor einiger Zeit gegangen, und zwar absolut erfolglos, aber das hätte ja durchaus schlechter Zeitpunkt oder dummer Zufall sein können, also neu gewagt und das wird schon werden.

Es meldete sich dann auch ein (Anzahl: 1) Bewerber (und damit bereits einer mehr als bei der vorherigen Suche per Arbeitsamt - da kamen zwar massenweise Vermittlungsvorschläge, aber keiner von den aufgeführten Arbeitssuchenden hat sich jemals bei uns gemeldet) und da dieser recht umgänglich und einigermassen intelligent erschien, stellten wir ihn auch gleich ein.

In den ersten Tagen war er sehr langsam, schnell ausser Atem und wurde schnell müde. Verständnisvoll gaben wir ihm alle Zeit, die er brauchte, um akkurate Arbeit (Gas, Wasser, Scheisse) zu leisten und munterten ihn auf - sicherlich würde er bald wieder "in Tritt" kommen.

Nach acht Tagen liess er den Kollegen gegenüber verlauten, am Freitag müsse er "ganz pünktlich" Feierabend machen, weil er über das Wochenende fortfahren möchte. Kein Problem, kriegen wir hin!

Am nächsten Tag, dem besagten Freitag, warteten wir vergeblich auf den werten Herrn. "Magen und Darm" habe er, teilte er telefonisch mit. Die von uns angeforderte Krankmeldung brachte am frühen Freitagnachmittag die Lebensgefährtin des armen Kranken vorbei.

Misstrauisch aber gewillt, gute Miene zu bewahren, warteten wir am Montag in der Früh auf den neuen Mitarbeiter. Der kam jedoch nicht, sondern liess telefonisch ausrichten, er würde immer noch "Blut spucken" und könne nicht kommen. Folgekrankmeldung käme noch. Kam dann auch.

So weit so gut.

Nun stellen Sie sich folgendes vor: Sie sind leider und umgotteswillen arbeitslos und demnächst läuft Ihr ALG1 aus. Ihre Lebensgefährtin ist ebenfalls arbeitslos und bezieht ALG2. Ihnen wird eine Vollzeitstelle in Ihrem erlernten Beruf angeboten, unbefristet und bei ortsüblicher Bezahlung. Sie sind zwar langsam und körperlich wenig fit, aber man bringt Ihnen sehr viel Verständnis entgegen und sogar Ihre nach kürzester Zeit eingereichten Krankmeldungen über eine gute Woche "Magen und Darm" wird zwar stirnrunzelnd, aber durchaus immer noch mit Verständnis hingenommen.
Würden Sie nun bei einer telefonischen Anfrage Ihres nagelneuen Chefs, wie es denn aussähe und ob Sie auf dem Weg der Genesung sind,

a) wortkarg und grummelig antworten, Sie wüssten noch nicht, wie lange sie krank wären und wenn Sie, also Sie als neuer Chef, meinten, nun die Entlassung aussprechen zu müsssen, das müssen Sie das eben einfach tun?

Und weiter

b) nachdem kein Wort über Entlassung gefallen ist, am nächsten Tag per SMS selbst kündigen, mit dem ungefähren Wortlaut, Sie hätten sich das alles anders vorgestellt und das würde Ihnen nun nicht wirklich zusagen und deshalb kündigen Sie den Job wieder. Ach, und hier ist auch noch die Bankverbindung für den bisherigen Lohn?

Der Hinweis, dass eine Kündigung per SMS gemäß § 623 BGB nicht wirksam ist und wir eine auf Papier aufgebrachte schriftliche Kündigung erbitten, wurde erstmal ignoriert. Die Woche verging, es wurde wieder Montag und vom werten neuen Mitarbeiter kein Bild, kein Ton. Wir fragten an, per SMS, was denn nun los sei. Wir warten hier und nix ist. Aber auch rein gar nix. Lapidare Antwort: Kündigung ist per Einschreiben auf dem Weg.

Dienstag früh kam die schriftliche Kündigung. Ungefährer Wortlaut: da kein Arbeitsvertrag vorhanden ist (wie auch, er war ja nur ein paar Tage da und wir kamen nicht dazu) und zudem auch noch Probezeit ist (woher will er das wissen, ohne Arbeitsvertrag, vielleicht haben wir gar keine vereinbart) kündigt er sofort, also, ähm, SOFORT.

Jetzt hat er es uns aber gegeben! Holla, die Waldfee!

Die paar Tage, die er da war, soll er irgendwann bekommen, sobald klar ist, ob und wie wir seine Kündigung akzeptieren. Das kann allerdings ein bisschen dauern. Die Krankheitstage müssen wir laut Gesetz nicht bezahlen, da eine Lohnfortzahlung in den ersten vier Wochen nach Anstellung nicht erbracht werden muss - hier ist die Krankenkasse Ansprechpartner, wenn diese gewillt ist, dem Herrn Krankengeld zu bezahlen. Ist aber sein Problem, nicht unseres. Den Schaden, der er verursacht hat, als er eine Pressung nicht ordnungsgemäß vorgenommen hat und ein frisch saniertes Bad nun erneut getrocknet und saniert werden muss, werden wir der Betriebshaftpflicht melden. Die Zeit, die wir damit verbrachten, den Kunden zu beruhigen und die Arbeit des neuen Mitarbeiters in Ordnung zu bringen, binden wir uns ans Bein.

Letzten Freitag kamen dann auch vier neue Vermittlungsvorschläge des Arbeitsamtes. Gestern riefen wir am Arbeitsamt an um nachzufragen, wie lange die Herrschaften denn Zeit haben, sich zu bewerben, denn bis gestern nachmittag meldeten sich genau null (Anzahl: 0) der aufgeführten Arbeitssuchenden bei uns. Kurzantwort vom AA per Mail: man müsse den Herrschaften schon noch eine Woche Zeit lassen, immerhin bewerben die sich ja schriftlich.

Ach, denke ich, dann bekommen die bestimmt täglich 10 - 12 Vorschläge, zu denen die sich schriftlich bewerben müssen, und die arbeiten das der Reihe nach ab, so dass wir wohl erst in ein paar Tagen dran sind. Diese armen Menschen, die kämpfen so hart um eine Vollzeitanstellung, unbefristet und bei ortsüblicher Bezahlung, da sind die vollkommen ausser Atem vor lauter Bewerbungsschreiben und kommen einfach nicht schneller dazu. Die würden ja gerne sofort mit bewerben anfangen und alles spätestens am nächsten Tag in den Briefkasten werfen und ganz schnell ein Vorstellungsgespräch abmachen und so weiter und so fort, aber die kommen vor lauter Angeboten zu nichts und wieder nichts. Ach, ach, ach Gott.

Falls Sie mal Zeit haben, werfen Sie mal die Suchmaschine Ihrer Wahl an und schauen Sie mal, wieviele Foren es gibt, in denen Ihnen Tipps gegeben werden, wie Sie sich davor drücken können, so als armer Arbeitsloser, eine vermittelte Stelle antreten zu müssen. Das fängt ja schon bei der Bewerbung an. Mit ein bisschen manipulativem Geschick können Sie sich von vorne herein aussortieren lassen und müssen nichtmals zu einem widerlichen Vorstellungsgespräch.

Ach, und wenn wir schon mal beim vagen Thema "Arbeitslosigkeit, Amt und Bezüge" sind: hier im Ort kenne ich ein Ehepaar ein wenig näher. Beide nicht mehr ganz jung, aber deutlich jünger als ich. Beide leben vom Amt. Beide haben eine "bewegte" Vergangenheit mit allem, was so dazugehört: Drogen, Knast, Bewährungsstrafen etc.
Vor kurzem habe ich deren Facebook-Seiten gefunden. Die beiden äussern sich einhellig dahingehend, dass die dreckigen Flüchtlinge einfach hierherkommen und alles, alles kriegen, vom Amt, während die Deutschen nichts, aber auch gar nichts kriegen und für jede Kleinigkeiten kämpfen müssen. Dazu ein Video einer rechten Band, die vor einem Asylheim musiziert. Ähm, ja, musiziert. So Texte, in denen es um arme deutsche Kinder geht, für deren Rechte deren Väter kämpfen. Oder so. Ich habe das nicht so ganz verstanden, obwohl ich ja deutsch bin und deutsch verstehe und spreche. Auch lese, übrigens.

Wo war ich doch gleich, ach so, ja: ich glaube ja, dass die am meisten Hass über Flüchtlinge ausschütten, die Angst haben, dann selbst weniger vom Amt zu bekommen. Vom Amt. Was ist denn "das Amt" eigentlich? Hm, ist das nicht das, wo die einzahlen, die arbeiten, damit denen geholfen wird, die nicht arbeiten können (von wollen ist ja keine Rede, neee-nich). Und auch denen, die sonst in echten Schwierigkeiten stecken. Denen auch. Wobei unter echte Schwierigkeiten nicht das Bier, die Kippen und das neueste Playstationspiel fällt, nee, das eher nicht.

Bevor sich jemand von mir in den Arsch getreten fühlt, der Bezüge vom Amt bekommt und nun glaubt, ich würde mich über alle und alles aufregen: nein, ist nicht so. Ich rege mich über die auf, die ein bisschen die Relationen aus den Augen verloren haben. Von wegen, was wem weshalb zusteht und wem nicht. Und wer zuerst die Hand aufhalten darf und wer aus welchen Gründen nicht.
Und vor allem über die, die arbeiten könnten, es aber einfach nicht wollen. Weil auf dem Sofa ist viel schöner, und morgens so früh aufstehen eben nicht so. Und anstrengend ist die Arbeiterei auch. Da ist man ja dann abends so früh müde. Das ist doch alles blöd.

Wenn ich ehrlich bin, bekomme ich auch Angst bei so vielen Flüchtlingen. Aber nicht, weil ich dann weniger vom Amt bekomme - ich bin ja eine von denen, die da einzahlen - sondern weil ich mich davor fürchte, welches Gesicht Deutschland bekommen könnte. Und welche Stimme. Und weil ich jetzt schon Angst habe, die Zeitung aufzuschlagen und die Überschriften zu lesen. Das ist doch alles nicht zu glauben, oder?

Ich hätte da jetzt noch eine kurze Frage, bevor ich weitermache mit meiner Arbeit, wegen der ich ja auch ins Amt einzahle (ja, ich weiss, ich mag auch keine abgestandenen Kalauer):
wieso ist der Protest gegen die Griechenlandhilfen fast unhörbar geblieben, bzw. im Volk gar nicht organisiert gewesen, während die gegen Flüchtlinge so heftig ausfällt? Bedeutet das, dass wir ja gerne unser Geld für alles mögliche hergeben wollen und sollen, solange es sich nur ausserhalb der deutschen Grenzen befindet und wir es weder sehen, noch hören müssen und "unter uns bleiben" können. Ich verstehe das nicht so ganz. Aber vielleicht liegt das ja auch an mir.

P. S.: Gestern abend habe ich doch glatt gefroren. GEFROREN! Ist das nicht herrlich, sich die Decke bis zu den Ohren zu ziehen und dabei wunderbar schlafen zu können?! Herrlichst! Allerherrlichst!



Donnerstag, 6. August 2015
Ich will Herbst
Ist der Alltag, das Machen und Tun, die Routine eben, ist dieses die Tünche über dem alten und hässlichen Lack der Mühsal, Anstrengung, gefühlten ewigen Last des Lebens mitsamt der eigenen Einsamkeit, die jeder, der ein einzelner ist (und wir alle sind einzelne, auch dann, wenn wir viele sind), mit sich trägt

oder

ist das plötzliche Aufflackern alldessen, oder besser: das hereinfallende Dunkel in den hellen Tag, nur ein kleiner Kratzer im beinahe perfekten Lack des nicht ganz so perfekten Alltags?

Kann man in beidem zugleich sein, ohne sich dessen bewusst zu werden? Im Alltag, in der Routine und doch auch in der Quälerei eines Lebens, das man so nicht wollte, niemals so wollte. Oder ist es ein Schwanken zwischen beidem, das je nach eigener Befindlichkeit mal hierhin, mal dorthin schwappt und immer, wenn es heftiger schwappt, erschrickt man sich und fragt sich, wo gerade man sich befindet und wie man, verdammt nochmal, dorthin gekommen ist?
Und wenn man sich bewusst wird, dass man von einem Becherrand zum anderen kreiselt, wie kann man das vergessen? Kann man es vergessen, muss man es überhaupt vergessen? Oder geht es nicht allen und jedem so, dass im Hellen das Dunkel kommt und geht und andersherum?

Ich weiss, dass ich diese Phasen habe, die an eine Depression denken lassen. Ob es wirklich eine ist, weiss ich nicht. Ich halte es für jahrelange und anhaltende mühsame Überforderung, aber ich bin das schon so gewohnt, dass ich nicht mehr weiss, was "normal" ist und wo es aufhört "normal" zu sein. Aber sollte gerade die Gewöhnung an die Mühsamkeit nicht härter machen und weniger wehleidig? Und woher kommt dann das immer wiederkehrende Leiden, wenn es denn so wäre?

Manchmal habe ich das alles so satt und dann bin ich auf mich selbst so unendlich wütend, denn ist nicht jeder selbst verantwortlich für sein Leben und sein Tun und damit auch für seine Befindlichkeit? Aber wenn das so ist, wenn man alleine verantwortlich ist, darf man dann alle vergessen, die im selben Boot sitzen und darf man die Verantwortlichkeit auf sich selbst beschränken? Oder ist nur der glücklich, der eben dieses versteht, nämlich sich vor allem auf die Verantwortung sich selbst gegenüber zu beschränken? Wie ist es, die anderen zu vergessen, an die man jahrelang dachte und mit denen gemeinsam man an den Punkt gegangen ist, an dem man nicht ankommen wollte? Ist man denn wirklich froher, diese zu vergessen, oder einfach stehenzulassen, um sich der Verantwortung für das eigene, und nur das eigene Leben, zu stellen? Ich glaube nicht. Aber was ich glaube und nicht glaube, ist nicht immer richtig. Ist sogar selten richtig. Glaube ich. Pffft.

Und das Schlimmste an allem ist die fehlende Perspektive. Der fehlende Horizont. Wohin sollte denn ein anderer Weg gehen? Ich wüsste keinen anderen. Und eigentlich will ich auch keinen anderen. Der, den ich gehe, der sollte leichter sein. Das wäre fein.

Ich hätte gerne Herbst. Mit seinen Düften, mit dem weiten Blick über geerntete Felder. Dem kühlen Lüftchen in mildem Sonnenlicht. Ich hätte gerne vieles, aber Herbst würde schon reichen.