Lebbarer Mythos
Vielleicht muss man tatsächlich einige Jahrzehnte sein eigen nennen, um sich von der weitverbreiteten, romantischverklärten, aber leider irrigen Vorstellung über die Liebe zu trennen. Um zu wissen, dass der Hauptinhaltsstoff eines gut funktionierenden Miteinanders nicht chronische Glückseligkeit, untermalt von Geigenklängen und perfektem gegenseitigen Verstehen ist. Um ertragen zu können, dass man sich phasenweise gehörig auf die Nerven geht und das Verständnis gerade noch so weit reicht, den anderen nicht wegen seiner nun doch nicht so niedlichen Macken zu erwürgen. Um nach einem deftigen Streit nicht die Koffer zu packen, auch wenn der Gedanke schrillgelb im Kopf herumwandert. Um zu wissen, dass dieses oder jenes sich nicht ändern wird, nicht in diesem Miteinander und auch in keinem anderen. Und um zu wissen, dass alle emotionsgeladenen Lovesongs, Kitschfilme und Schnulzenromane allerschönste Fiktion sind, entsprungen und spielend mit den Sehnsüchten der Menschheit nach jenem Glücksbad, den das Frischverliebtsein auslöst.

Denn das ist es, das Frischverliebtsein. Ein Glücksbad. Ein Schwimmen in Hormonen und Botenstoffen. Vor Glück nicht mehr Schlafen, nicht mehr Essen, nicht mehr Denken können.

Der Rausch lässt nach. Irgendwann. Und anstatt dieses als natürlichen Vorgang hinzunehmen und zu kapieren, dass der eigene Körper wieder im Normalmodus läuft, wird die Ernüchterung auf das Gegenüber übertragen und das Miteinander als nicht optimal, nicht passend, nicht kompatibel eingestuft. Entweder erkennt man nun, dass Alltag eben genau diese Tage beschreibt, in denen man den überwiegenden Teil seines Lebens verbringt oder man hält an der überzeichneten Vorstellung von Liebe fest, dann geht sie weiter, die Suche nach der Liebe, von der man hört und liest, und die doch, verdammt nochmal, endlich mal zu finden sein muss, und die doch nichts anderes ist, als der Rausch der ersten Wochen und Monate. Jener Rausch, der verfliegt, weil der Körper gar nicht in der Lage ist, dauerhaft so einen Tumult aufrecht zu erhalten.

Jemand, der ständig diesen Rausch sucht, behauptet gerne, er hätte die große Liebe eben einfach noch nicht gefunden. Und so sucht er weiter und weiter, probiert diesen und jenen Menschen im Miteinander aus und sucht dann weiter. Aber was sucht er denn überhaupt? Ein lebbares Miteinander oder den Anfangsrausch, der mit einer Verliebtheit einhergeht? Jagt er der Liebe hinterher, weil es sie, so wie er sie sieht, gar nicht gibt oder sucht er tatsächlich nach einem Miteinander, das seiner Vorstellung von Liebe entspricht? Und jemand, der ständig verliebt ist, alle paar Wochen in eine andere Person, ist der in diese Personen verliebt, oder vielmehr in die Suche nach der Liebe, in den Rausch?

Wieviel Rausch braucht der Mensch im Alltag? Wieviel Kitsch und verklärte Illusion?

Ein gutes Miteinander, in dem es sich leben lässt, beidseitig, und in der sich immer wieder Übereinstimmung, größtmögliches Verstehen und Glücksmomente finden lassen, besteht aus einem akzeptablen Gleichgewicht zwischen Erfüllung und Enttäuschung. Niemand kann in jedem Moment des Tages das Richtige sagen und tun. Niemand kann alles um sich herum perfekt verstehen und genau richtig reagieren. Niemand kann hellsehen oder gedankenlesen. Es wird in einem Miteinander immer dieses oder jenes geben, was den anderen irritiert, stört, ihm gegen den Strich geht. Es wird große oder kleine Enttäuschungen geben und hin und wieder auch Wut und Unverständnis. Vieles in einem Miteinander ist Gold wert, unbezahlbar, anderes wiederum, nunja, nervig, doof, aber irgendwie ertragbar.

Es ist schwer, herauszufinden, welche nicht erfüllten Wünsche deshalb nicht erfüllt sind, weil sie unerfüllbar sind, entsprungen einer märchenbuchhaften verklärten Illusion, und welche nicht erfüllt sind, weil die eigenen Ansprüche an das Gegenüber nicht mit diesem vereinbar sind. Ein Zusammenleben um jeden Preis, in dem sich kein akzeptables Gleichgewicht zwischen Positiv und Negativ herstellen lässt, wird viel zu wenig an Übereinstimmung, Verständnis, Innigkeit und Glücksmomenten hergeben und macht auf Dauer wirklich unglücklich und dauerunglücklich, das sollte niemand sein wollen und sollen. Doch ist man wirklich so unglücklich, wie man meint, oder verliert das Miteinander nur im Kampf gegen die eigene unrealistische Illusion?

Das ist das schwierigste an der Sache mit der Liebe: Womit kann ich leben, womit nicht? Und was gehört zu den Legenden, Märchen und Mythen, die ich mir in die Taschen habe schaufeln lassen und ist somit Quatsch mit Soße und was passt wirklich nicht und ist damit unlebbar für mich? Was kann ich ändern und was nicht und kann ich mit dem, das ich nicht ändern kann, dauerhaft leben, ohne in regelmäßigen Abständen in Krisenstimmung zu geraten? Und wenn ich in so einer Krisenstimmung gehen würde, was würde ich dann vermissen? Den tischgedeckten Komfort, die finanzielle Sicherheit, die gemütliche grüne Couch, oder den Anderen? Tatsächlich den Anderen mit allen seinen guten Seiten und üblen Macken? Mit seinem Lachen und Grunzen, seinem Faible für Strickdeckchen oder Fußballstadien, seinem aufmunternden Blick, seinem Achselgeruch?

Vielleicht braucht es ein paar erlebte Verliebtheiten. Ein paar verflogene Rauschzustände. Ein paar herzblutige Dramen. Ein Dutzend kleiner, halbmondförmiger Narben auf den Unterarmen. Einige Jahrzehnte im eigenen Gepäck.