Freitag, 7. März 2014
Auf dem Trottoir warf die Lampenreihe, die an der Fassade des Theatergebäudes entlang aufflammte, eine Fläche von lebhafter Helle. Zwei Bäumchen hoben sich deutlich mit leuchtendem Grün ab; eine Säule, die so hell erleuchtet war, daß man die Plakate wie beim vollen Tageslicht zu lesen vermochte, schimmerte weiß, und darüber hinaus breitete sich die dichte Nacht des Boulevards mit winzigen Flämmchen, die in dem Bereich der auf und nieder wogenden Menge bald hier, bald dort emporzitterten. Viele traten nicht sogleich ein, sondern blieben, um plaudernd ihre Zigarre zu Ende zu rauchen, draußen unter dem Lichtbereich der Lampenreihen stehen, der ihren Gestalten eine fahle Blässe gab und ihre kurzen schwarzen Schatten auf dem Asphalt abhob. Mignon, ein langer, breitschulteriger Lebemann mit dem dicken Schädel eines Jahrmarktherkules, brach sich einen Weg mitten durch die Gruppen, an seinem Arm den Bankier Steiner schleppend, einen Mann von winziger Figur mit einem spitzen Bäuchlein und einem runden, von einer Krause ergrauenden Barthaars umrahmten Speckgesicht.

aus: Émile Zola, Nana
via Spiegel Online, Projekt Gutenberg)

Sätze, die erst nach dem zweiten, dritten, vierten Lesen in ihrer ganzen Pracht auf der Zunge zergehen und dabei Bilder malen, an denen man sich nicht sattsehen kann, weil sie so lebendig sind, greifbar. Unaufdringlich bleibend, so dass man sie festhalten möchte, damit sie nicht bei einer unbedachten Bewegung durch die Finger rutschen.



Montag, 24. Juni 2013
Alice, Faselhase, Hutmacher und Murmeltier
»Ei, jetzt wird es Spaß geben,« dachte Alice. »Ich bin so froh, daß sie anfangen Räthsel aufzugeben – Ich glaube, das kann ich rathen,« fuhr sie laut fort.

»Meinst du, daß du die Antwort dazu finden kannst?« fragte der Faselhase.

»Ja, natürlich,« sagte Alice.

»Dann solltest du sagen, was du meinst,« sprach der Hase weiter.

»Das thue ich ja,« warf Alice schnell ein, »wenigstens – wenigstens meine ich, was ich sage – und das ist dasselbe.«

»Nicht im Geringsten dasselbe!« sagte der Hutmacher. »Wie, du könntest eben so gut behaupten, daß ich sehe, was ich esse« dasselbe ist wie »ich esse, was ich sehe.«

»Du könntest auch behaupten,« fügte der Faselhase hinzu, »ich mag, was ich kriege« sei dasselbe wie »ich kriege, was ich mag!«

»Du könntest eben so gut behaupten,« fiel das Murmelthier ein, das im Schlafe zu sprechen schien, »ich athme, wenn ich schlafe« sei dasselbe wie »ich schlafe, wenn ich athme!«

»Es ist dasselbe bei dir,« sagte der Hutmacher, und damit endigte die Unterhaltung, und die Gesellschaft saß einige Minuten schweigend, während Alice Alles durchdachte, was sie je von Raben und Reitersmännern gehört hatte, und das war nicht viel.


[aus: Lewis Carroll, Alice im Wunderland
(Originaltitel aus 1864: Alice´s Adventures under Ground)]

Siehe auch Lewis Caroll - Wikipedia
und
Projekt Gutenberg-De, Lewis Carroll, Alice´s Abenteur im Wunderland



Dienstag, 24. August 2010
Besser anders
"Wissen Sie, ich war ja nicht immer so. Früher war ich genau das Gegenteil von dem, was und wie ich jetzt bin. Aber wenn man sich ein dutzend Mal die Finger verbrannt hat, bei dem Versuch, aus den Flammen zu retten, was noch nicht ganz in Asche zerfallen ist, dann wird man irgendwann, wird jeder irgendwann, nur noch zögerlich zufassen und lieber achselzuckend brennen lassen, was da, verdammtnochmal, nun schon wieder brennt.

Es ist ja nun auch nicht so, dass immer alles Mist hoch drei gewesen ist. Und ich hatte auch genug Chancen. Von Anfang an sogar. Aber bei dem Versuch, es immer allen Recht zu machen, mich selbst eingeschlossen, habe ich eben immer nur das Kleinste gewählt, wenn es etwas zu wählen gab und niemals das Große oder gar das Größte von allem. So waren alle immer zufrieden, denn natürlich kann man im Kleinen nicht versagen oder gar über alle anderen hinauswachsen. Oder deutlicher ausgedrückt: für das Große hat mir immer Mut und Zuversicht gefehlt. Ich und was Großes? Wo denken Sie hin? Als ob ich, ausgerechnet ich, für etwas Großes geboren worden wäre. Tz.

Es erstaunt mich, schon seit geraumer Zeit, wieviel auch im Kleinen und Allerkleinsten schief gehen kann. Und wie tief so eine Talfahrt doch immer noch gehen kann, wenn man doch schon lange meinte, die Talsohle erreicht zu haben. Liegt das daran, dass man im Kleinen ohnehin nicht so hoch hinauf gelangt und daher schneller wieder unten ist oder liegt es am persönlichen Blickwinkel?

Bekannterweise unterscheidet sich die individuelle Belastbarkeit natürlich enorm. Was dem einen schon zuviel ist, erscheint dem anderen gar nicht erwähnenswert. Ich versuche da immer die Relation im Auge zu behalten. Im Vergleich mit allen denen, die weder Dach über dem Kopf, noch Gürtel um die Wohlstandswampe haben, oder die ihre Tage zählen können, bis eine Krankheit die letzte Zifferntafel hebt, geht es mir gut bis sehr gut. Allerdings darf ich den Gegenvergleich mit Freunden oder Bekannten nicht anstellen, das würde zu einem anderen Ergebnis führen.

Ergebnisse sind ja immer der letzte Schritt in einer Rechenaufgabe. Mathematik war nie meine Stärke. Ich konnte machen, was immer ich wollte, ich bin niemals über ein "akzeptabel" hinausgekommen. Das hat mich damals nicht sehr gewurmt, aber den Eltern zuliebe musste ich zerknirscht tun. Irgendwann war ich dann vor lauter "Tun als ob" wirklich zerknirscht. Und bis heute ärgert mich mein leicht gestörtes Verhältnis zur Mathematik. Obwohl ich mir immer zu helfen weiß, immerhin gibt es ja Rechenmaschinen, die wenigstens zur Überprüfung der eigenen Rechnung sehr hilfreich sind.

Wenn ich so zurückblicke, kann ich gar nicht sagen, an welchem Punkt ich ansetzen sollte, dürfte ich nochmal von vorne beginnnen. Da war die Sache mit dem Jugendamt, dessen Hilfe ich ausgeschlagen hatte, weil ich mir nicht vorstellen konnte, das ich mich von meinen Eltern trenne, aber die dennoch für mich bezahlen sollen. Oder der Rückumzug aus der Großstadt in das kleine, nur äußerlich idyllische Kaff, nur weil meine Mutter mir immer so liebe Briefe schrieb, damals (sie kann auch sehr böse Briefe schreiben, wie ich inzwischen sehr gut weiß). Oder die Entscheidung, selbst Kinder haben zu wollen. Ich. Und Kinder. Herrgott, als ob ich mit mir selbst nicht schon genug zu tun hatte. Ich war keine gute Mutter, weil ich gar nicht wusste, was eine gute Mutter ausmacht. Und weil ich es nie erlebt habe, wie eine gute Mutter sich verhält. Ich wollte nur alles anders machen als ich selbst es erlebt habe und natürlich war das Gegenteil von alledem nicht auch gleich die bessere Alternative. Ja, und dann alle die Jahre, in denen ich nicht sein wollte wie meine Mutter, aber auch nicht wusste, wie man es anders macht. Da war nur wenig gesunder Menschenverstand im Spiel, sondern immer nur der Wunsch, es bloß nicht wie sie zu machen, sondern anders. Und das, ohne zu wissen, was ich selbst eigentlich wollte und will und wie es mir selbst gut tut.

Ich habe ihr nach langem Nachdenken vieles verziehen, denn vielleicht hat sie ebenso nur alles anders machen wollen, als das, was sie selbst erlebt hat. Und verfolge ich diesen Blickwinkel weiter, verzeihe ich auch meinen Kindern einiges. Bleibt nur zu hoffen, dass diese mir eines Tages auch verzeihen können. Und dass sie so gescheit sind, nicht alles anders machen zu wollen, sondern tatsächlich besser.

Wenn ich mir was wünschen dürfte, so zackzack und 3 Mal im Kreis drehen - fertig, wüsste ich nicht genau, was das sinnvollste wäre. Mehr Mut und Kraft oder mehr Duldsamkeit. Aber vielleicht sollte ich mir einfach mehr als nur einen Wunsch wünschen. Vielleicht sollte ich mir gleich ein Dutzend Wünsche aushandeln. Damit ließe sich eine Menge anstellen und vielleicht würden sich dann sogar ein oder zwei Dinge zum Guten wenden lassen."




Samstag, 3. Juli 2010
Und
- als ich aus der Dusche komme, wegen der Hitze nur in Hemdchen und Handtuch, und mir so aus der Küche einen Kaffee holen will, erinnere ich mich aus heiterem Himmel, wie er, der Vater, immerzu nur im Hemd gesessen ist. Im Hemd, Feinripp, und sonst nichts. Und wie wir immerzu seinen kleinen, verschrumpelten Pimmel anschauen mussten, weil er immer, wenn er zuhause war, nur im Hemd dasaß. Oben er selbst, mit Feinripphemd über dem riesigen, dicken Bauch, und darunter der andere, der verschrumpelte, winzige Pimmel über den Falten eines undefinierbaren Hautsackes.

Und wir trauten uns nicht, jemanden einzuladen, oder mitzubringen, weil er, der Vater, dann immer erst aus der Küche ins Wohnzimmer - wohin wir Kinder nur an Feiertagen durften - verschwinden musste, und er wohl doch irgendwie wusste, dass es eine ungehörige Art ist, anderen ständig seinen Pimmel zu zeigen. Anderen. Bei uns galt ihm das nicht. Und wie er immer schnaufte und schnaubte, dann, wenn jemand anderes kam, weil er sich gestört fühlte in seiner Pimmelschau und weil es ihm als ungehörige Art vorkam, in sein Territorium einzudringen.

Wie ich es gehasst habe, am Tisch zu sitzen, bei einer Mahlzeit, und zu wissen, dass unter der Tischplatte dieses Schrumpelding auf meine Beine starrte. Oder wenn es Streit gab, übers Heimkommen, oder eine Schulnote, und mich beide zornig anstarrten, er und sein ekliger Pimmel.

Eine Dauernötigung war das und am schlimmsten war es in den Jahren, in denen ich selbst mich sogar beim Arzt schämte, wenn dieser wollte, dass ich mich auszog. Ich schämte mich so sehr, als würde ich mich für den Vater mitschämen, und auch für die Mutter, die alle Jahre zugelassen hat, dass wir keine Hose wert waren. Aber vielleicht hatte sie, so wie wir, zuviel Angst vor ihm, denn jemand, der so gnadenlos Demütigungen austeilte und mit seinem kleinen, verschrumpelten Pimmel drohte, war jemand, den man einfach nur fürchten konnte. Verachten und fürchten. Vor allem fürchten.



Dienstag, 29. Juni 2010
Lebbarer Mythos
Vielleicht muss man tatsächlich einige Jahrzehnte sein eigen nennen, um sich von der weitverbreiteten, romantischverklärten, aber leider irrigen Vorstellung über die Liebe zu trennen. Um zu wissen, dass der Hauptinhaltsstoff eines gut funktionierenden Miteinanders nicht chronische Glückseligkeit, untermalt von Geigenklängen und perfektem gegenseitigen Verstehen ist. Um ertragen zu können, dass man sich phasenweise gehörig auf die Nerven geht und das Verständnis gerade noch so weit reicht, den anderen nicht wegen seiner nun doch nicht so niedlichen Macken zu erwürgen. Um nach einem deftigen Streit nicht die Koffer zu packen, auch wenn der Gedanke schrillgelb im Kopf herumwandert. Um zu wissen, dass dieses oder jenes sich nicht ändern wird, nicht in diesem Miteinander und auch in keinem anderen. Und um zu wissen, dass alle emotionsgeladenen Lovesongs, Kitschfilme und Schnulzenromane allerschönste Fiktion sind, entsprungen und spielend mit den Sehnsüchten der Menschheit nach jenem Glücksbad, den das Frischverliebtsein auslöst.

Denn das ist es, das Frischverliebtsein. Ein Glücksbad. Ein Schwimmen in Hormonen und Botenstoffen. Vor Glück nicht mehr Schlafen, nicht mehr Essen, nicht mehr Denken können.

Der Rausch lässt nach. Irgendwann. Und anstatt dieses als natürlichen Vorgang hinzunehmen und zu kapieren, dass der eigene Körper wieder im Normalmodus läuft, wird die Ernüchterung auf das Gegenüber übertragen und das Miteinander als nicht optimal, nicht passend, nicht kompatibel eingestuft. Entweder erkennt man nun, dass Alltag eben genau diese Tage beschreibt, in denen man den überwiegenden Teil seines Lebens verbringt oder man hält an der überzeichneten Vorstellung von Liebe fest, dann geht sie weiter, die Suche nach der Liebe, von der man hört und liest, und die doch, verdammt nochmal, endlich mal zu finden sein muss, und die doch nichts anderes ist, als der Rausch der ersten Wochen und Monate. Jener Rausch, der verfliegt, weil der Körper gar nicht in der Lage ist, dauerhaft so einen Tumult aufrecht zu erhalten.

Jemand, der ständig diesen Rausch sucht, behauptet gerne, er hätte die große Liebe eben einfach noch nicht gefunden. Und so sucht er weiter und weiter, probiert diesen und jenen Menschen im Miteinander aus und sucht dann weiter. Aber was sucht er denn überhaupt? Ein lebbares Miteinander oder den Anfangsrausch, der mit einer Verliebtheit einhergeht? Jagt er der Liebe hinterher, weil es sie, so wie er sie sieht, gar nicht gibt oder sucht er tatsächlich nach einem Miteinander, das seiner Vorstellung von Liebe entspricht? Und jemand, der ständig verliebt ist, alle paar Wochen in eine andere Person, ist der in diese Personen verliebt, oder vielmehr in die Suche nach der Liebe, in den Rausch?

Wieviel Rausch braucht der Mensch im Alltag? Wieviel Kitsch und verklärte Illusion?

Ein gutes Miteinander, in dem es sich leben lässt, beidseitig, und in der sich immer wieder Übereinstimmung, größtmögliches Verstehen und Glücksmomente finden lassen, besteht aus einem akzeptablen Gleichgewicht zwischen Erfüllung und Enttäuschung. Niemand kann in jedem Moment des Tages das Richtige sagen und tun. Niemand kann alles um sich herum perfekt verstehen und genau richtig reagieren. Niemand kann hellsehen oder gedankenlesen. Es wird in einem Miteinander immer dieses oder jenes geben, was den anderen irritiert, stört, ihm gegen den Strich geht. Es wird große oder kleine Enttäuschungen geben und hin und wieder auch Wut und Unverständnis. Vieles in einem Miteinander ist Gold wert, unbezahlbar, anderes wiederum, nunja, nervig, doof, aber irgendwie ertragbar.

Es ist schwer, herauszufinden, welche nicht erfüllten Wünsche deshalb nicht erfüllt sind, weil sie unerfüllbar sind, entsprungen einer märchenbuchhaften verklärten Illusion, und welche nicht erfüllt sind, weil die eigenen Ansprüche an das Gegenüber nicht mit diesem vereinbar sind. Ein Zusammenleben um jeden Preis, in dem sich kein akzeptables Gleichgewicht zwischen Positiv und Negativ herstellen lässt, wird viel zu wenig an Übereinstimmung, Verständnis, Innigkeit und Glücksmomenten hergeben und macht auf Dauer wirklich unglücklich und dauerunglücklich, das sollte niemand sein wollen und sollen. Doch ist man wirklich so unglücklich, wie man meint, oder verliert das Miteinander nur im Kampf gegen die eigene unrealistische Illusion?

Das ist das schwierigste an der Sache mit der Liebe: Womit kann ich leben, womit nicht? Und was gehört zu den Legenden, Märchen und Mythen, die ich mir in die Taschen habe schaufeln lassen und ist somit Quatsch mit Soße und was passt wirklich nicht und ist damit unlebbar für mich? Was kann ich ändern und was nicht und kann ich mit dem, das ich nicht ändern kann, dauerhaft leben, ohne in regelmäßigen Abständen in Krisenstimmung zu geraten? Und wenn ich in so einer Krisenstimmung gehen würde, was würde ich dann vermissen? Den tischgedeckten Komfort, die finanzielle Sicherheit, die gemütliche grüne Couch, oder den Anderen? Tatsächlich den Anderen mit allen seinen guten Seiten und üblen Macken? Mit seinem Lachen und Grunzen, seinem Faible für Strickdeckchen oder Fußballstadien, seinem aufmunternden Blick, seinem Achselgeruch?

Vielleicht braucht es ein paar erlebte Verliebtheiten. Ein paar verflogene Rauschzustände. Ein paar herzblutige Dramen. Ein Dutzend kleiner, halbmondförmiger Narben auf den Unterarmen. Einige Jahrzehnte im eigenen Gepäck.



Freitag, 18. Juni 2010
Nichts
- was es nicht schon einmal gegeben hätte.



Alles war schon einmal. Der rote Mohn am Feldrand. Die Sonne über dem Wäldchen. Der Staub auf meinen Schuhen. Der Kratzer im Blech. Das Brötchen mit der leeren Höhle innendrin. Die Wiederholung im TV, Film oder Werbung. Der tropfende Wasserhahn im Bad. Der Rummelplatz neben der Sportanlage. Das Muster des Schaums im Spülbecken. Der mittlere Gedanke, der letzte Satz, das erste Wort, der Text, der geschrieben wurde, und jener, der es noch werden muss.

   "Die Tür fiel ins Schloss."

In wie vielen Erzählungen, Romanen findet sich dieser Satz? Tausendmal gelesen, tausendmal gehört. Es gibt nichts, das nicht schon einmal geschrieben, gesagt worden wäre.

   "Ich kehrte am späten Abend zurück."

Auch das wurde tausendmal geschrieben, gesagt, gehört, gelesen, in einer Erzählung, einem Roman, einer Erklärung, einer schlimmen Lüge.

Es gibt keine Worte, die nicht jemand anderes schon benutzt hat, keine Satzstellung, die es neu zu erfinden gibt. Alles, das man sagt oder schreibt, ist bereits gesagt oder geschrieben worden. Meine neuesten Neuigkeiten kennt man schon, sie waren schon alt, bevor sie überhaupt passierten.

Wie kann ich etwas bedeutsames sagen oder schreiben, wenn diese Worte, mit denen ich zu sprechen oder zu beschreiben fähig bin, alt und langweilig sind, weil sie bereits unzählige Male verwendet wurden, genau so oder nur minimal anders? Jeder Gedanke, den ich denke, dachte bereits ein anderer. Jede Emotion in mir teile ich mit anderen, die dasselbe fühlen. Nichts ist neu, unentdeckt, einzigartig. Keine Krankheit, die nicht bereits jemand vor mir durchlitten hätte, kein Schicksalsschlag, an dem nicht bereits jemand anderes zerbrochen wäre, oder den jemand anderes gemeistert hat.

   "Ich kehrte am späten Abend zurück. Die Tür fiel ins Schloss."

Hunderte kehrten am späten Abend zurück und hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss. Jeden Abend. Tag für Tag. Ein Leben lang.

"Ich kehrte am späten Abend zurück. Die Tür fiel ins Schloss. Sofort erdrückte Dunkelheit den langen Flur vor mir. Ich wusste, ohne erst nachsehen zu müssen, dass ich allein im Haus war. Angst umklammerte meine Fesseln und lähmte meine Schritte. Wenn sie noch schlimmer werden würde, so schlimm, dass ich nicht mehr zu atmen fähig bin, wusste ich, wäre niemand da, um mir zu helfen. Ich würde ersticken. Sterben. In diesem Flur. Auf diesem Teppich, der so schmuddelig ist, dass nicht einmal strahlendstes Sonnenlicht seine Farben deuten kann.

Ich wäre dann tot. Gestorben. Nicht mehr da. Man würde mich von einem Begräbnisinstitut abholen lassen. Ich würde gewaschen und umgezogen werden - niemand wird in Jeans und Shirt mit Marmeladenfleck begraben, das sieht nicht schön aus. Man würde mich auf dem winzigen Friedhof in die Erde lassen. Nicht unter der alten Weide, da liegen die Kinder unter ihren winzigen Erdhügelchen, und darauf drehen sich bunte Windräder bis sie vor Rost zu quietschen anfangen und irgendwann aufhören, sich zu drehen. Das ist dann, wenn die Eltern nicht mehr weinen, nur noch ab und zu, an besonderen Tagen, am Geburtstag oder Todestag, oder wenn die Sonne so schön scheint, dass die Nachbarskinder im Plantschbecken kreischen. Nein, nicht unter der alten Weide, sondern ganz hinten, wo sich Raps durch den Zaun drängt und Brennesseln wuchern.

Man würde weinen. Eine Zeit. Und dann würde man aufhören zu weinen. Nur noch ganz selten würde jemand weinen, an Geburtstagen, oder wenn die Sonne so schön scheint, dass die Picknickdecke von ganz alleine in den Park wandert. Irgendwann würde man gar nicht mehr weinen. Das muss so sein, weil das Weinen sehr hinderlich ist und man am Telefon nicht richtig sprechen kann und nicht richtig gucken, beim Autofahren. Der farblose Teppich würde eines Tages verschwunden sein, im Sperrmüll, und ein anderer dort liegen, wo ich gestorben bin. Nicht einmal ein winziges Stück von ihm würde einen Ehrenplatz bekommen, vielleicht neben dem Fernseher, um an mich und die Stelle, an der ich gestorben bin, zu erinnern.

Ich wäre einfach fort. So wie der alte Nachbar ein paar Häuser weiter. Oder so wie das Baby, das vor zwei Jahren vierzehn Tage nach seiner Geburt plötzlich fort war, weil es gestorben ist.

Ich wäre fort und es wäre nichts, das nicht schon einmal genauso dagewesen wäre. Unzählige Menschen starben hinter der Haustür im dunklen Flur und unzählige andere weinten darüber. Eine Zeit. Und dann nicht mehr.

Warum habe ich also solche Angst? Es passiert nichts, das nicht schon einmal passiert wäre. Nichts ist einzigartig, besonders daran, auf einem Dielenteppich zu sterben. Dieses hier ist eine Geschichte, wie tausend andere. Nichts daran macht irgendjemanden auch nur einen Hauch Angst."


Nichts. was es nicht schon einmal gegeben hätte.