Dienstag, 13. Juli 2010
Scheusal reloaded
Als ich vor dem Haus aus dem 120 Millionen Grad heißen Auto steige und mir das kleine, magere Scheusal von nebenan, vielleicht 12 oder 13 Jahre alt und mit einer durchdringenden Kreischstimme ausgestattet, zuwinkt, will ich nichts weiter, als dieses lästige, laute, freche, fiese Gör ignorieren. Wie oft habe ich denen nebenan die Pest an den Hals gewünscht. Und mir Glasbausteine an deren Fensterfronten, damit die wenigstens bei all dem Geschrei nicht auch noch die Fenster öffnen und mich noch ein wenig lauter beschallen können. Wie oft habe "Halt´s Maul!" gedacht, wenn nach einem besonders lauten Abend am Morgen ein überfreundlicher Gruß von nebenan kam. Wie oft habe ich die alle auf den Mars gewünscht, oder wenigstens nach Timbuktu, wo Schreien bestimmt als Zeichen von Edelmut und Feinheit angesehen wird. Wie oft...

... das Balg lässt sich nicht abschütteln. Im Gegenteil, es kommt hinterher. Mit einem schiefen Grinsen öffnet es den Mund und sagt etwas. Ich will das gar nicht hören und gehe schneller. In Fetzen fliegt mir so etwas wie "ich male gerade Ihr Haus" hinterher. Mir doch scheißegal, was du malst. Wegen mir male doch den Enddarm einer Kuh. Und weg bin ich, um die Ecke gebogen und außer Sicht.

Am späteren Abend, der aufkommende Wind zwingt geradezu, die Fenster weit zu öffnen, ruft es vor der Küche. Ein vorsichtiger Blick trifft auf das Scheusalskind. Im Bikini. Meine Güte, wie mager. Wie ein verhungertes Hühnchen. Ich will gerade zurückweichen und so tun, als wäre ich heimlich verstorben, fällt mir das Strahlen um die Augen des Gör auf. Und da ruft es auch schon wieder nach mir. Na gut, denke ich mir, wenn die jetzt wieder einen Stein gegen das Auto geworfen haben, dann vergesse ich mein Nein zum Bösesein.

Ein gefalteter Bogen Papier wird mir gereicht. "Ihr Haus", sagt das Kind mit einem erwartungsvollen Lächeln, "ich bin fertig".

Mehr als ein knappes "Danke" bringe ich nicht fertig. Von den eigenen Kindern über alle die Jahre mit zigtausend krakeligen Zeichnungen bedacht, kann mich das wildeste Gekritzele nicht mehr erschüttern. Schnell das Fenster zuwerfend, falte ich das Papier auseinander, ganz mechanisch, und wende mich dabei dem Altpapierbehälter zu. Doch mitten in der Drehung stutze ich. Schaue genauer hin. Meine Güte!

Eine akkurate gezeichnete Fensterfront. Oben das gekippte Fenster ganz links und ganz rechts der Kunstblumenstrauß vor der dunkelblauen Jalousie. Unten die beiden Fenster mit den ungleich langen Raffrollos. Rechts der halb heruntergelassene Rolladen und die obere Kante der Scheibengardine. Daneben, in der Wand eingelassen, die Abdeckung des Luftkanals der Dunstabzugshaube. Das Gestrüpp an der Hausecke. Das Rosa in der Mitte, Sandstein ganz unten. Sogar die Maserung des Milchglases der Badezimmerfenster.

Als ich erstaunt aufschaue, sehe ich das Kind an der Hausecke nebenan stehen, immer wieder zu meinem Fenster blickend. Mageres Hühnchen. Haare wie eine Vogelscheuche. Scheusal. Göre. Plage. Und doch unter alledem vielleicht nur ein Kind. Nichts weiter, als ein Kind.

Ich mache das Fenster auf und treffe auf einen erwartungsvollen Blick. "Gefällt es Ihnen?"
 "Es ist großartig. Du hast an alles gedacht. Sogar das gekippte Fenster im oberen Stock. Und total schön gezeichnet. Supertolle Arbeit!"

Das Kind lächelt vorsichtig. Erst. Und dann so breit es der Mund zulässt. Ein kurzes Winken und dann ist sie weg. Hinter der Hausecke verschwunden. Wie eine kleine Elfe mit ein wenig abstehenden Ohren und dreimal mehr Rippen, als alle anderen Elfen.

Kleines Scheusal von nebenan mit viel Kind darunter. Sich merken, wenn es mal wieder laut und lauter wird, nebenan.